Solidaritätskomitee Mexiko Salzburg - Würde durch Freiheit und Gerechtigkeit

In Erinnerung an Ricardo Loewe: Nachruf von Erich Hackl

Radiofabrik 2017 Verleihung des “Radioschorsch”

Der Unersetzliche

Zum Tod des austro-mexikanischen Arztes und Menschenrechtsaktivisten Ricardo Loewe (1941-2022)

Erich Hackl

Unter den zahllosen Brecht-Zitaten ist eines, das der kubanische Liedermacher Silvio Rodríguez in ganz Lateinamerika populär gemacht hat. Es würdigt Menschen, die gegen das Unrecht kämpfen – einen Tag, ein Jahr, viele Jahre. Das seien die Guten, die Besseren, die sehr Guten. »Aber es gibt Menschen, die kämpfen ihr Leben lang: / Das sind die Unersetzlichen.«

Ricardo Loewe, der am 9. November in Wien verstorben ist, war einer dieser Unersetzlichen, und deshalb trauern nicht nur seine Frau Franziska und sein Sohn Andrés um ihn, sondern auch seine vielen »Haberer« (ein Austriazismus für Freunde, Kumpel, Komplizen, den er gern in seine Reden einflocht). In Mexiko, wo er 1941 geboren ist und den größten Teil seines Lebens verbracht hat, ebenso wie in Österreich, das ihm dank seiner Frau zur späten Wahlheimat wurde, auch wenn er bis zum Ausbruch seiner tödlichen Krankheit zwischen beiden Ländern pendelte. Aus Wien stammte Ricardos Mutter Liesl Deutsch, der 1939 die Flucht nach Mexiko gelang, aus Frankfurt am Main sein Vater Paul Loewe, der schon fünf Jahre zuvor dem Naziterror entkommen war. Obwohl das Trauma der erlittenen Verfolgung in der Familie spürbar war, erfuhr Ricardo erst mit 16 von seiner jüdischen Herkunft. Er verdrängte sie nicht, sah aber keinen Anlass, sich deshalb religiös oder national zu positionieren. Hingegen erkannte er, dass in Mexiko nicht die Flüchtlinge aus Europa diskriminiert wurden, sondern die indigenen Völker. »Wir duften uns in Gruppen zusammenschließen, unsere Sprache sprechen und unseren Glauben bekennen. Ein Privileg, das der Urbevölkerung nicht zustand und auch heute noch nicht zusteht.«

Im Untergrund

Schon während des Medizinstudiums beschäftigte sich Ricardo Loewe mit Philosophie, Sozialanthropologie und Präventivmedizin, arbeitete als Kassen­arzt sowie in einer Gruppenpraxis und war auf dem Bazar del Sábado, einem traditionellen Markt für Kunstgewerbe, als Sisalknüpfer so erfolgreich, dass mehrere seiner Arbeiten von der angesehenen Architektin und Kuratorin Ruth Rivera für eine Ausstellung neuer mexikanischer Formgestaltung ausgewählt wurden. Es gab zwei Erlebnisse, die ihn in seinen politischen Anschauungen bestärkt und radikalisiert haben. Zum einen der Überfall auf ein Spital mit 1.200 Krankenbetten durch schwer bewaffnetes Militär, das sogar in die Operationssäle eindrang, zum anderen eine Fahrzeugkontrolle, bei der ein Soldat sein Gewehr entsicherte und die Mündung auf Ricardos Gesicht richtete. »In dem Moment hab’ ich mir gedacht, ich muss auf der anderen Seite der Knarre stehen. Auch wenn es mich das Leben kostet. Ich glaube, da bin ich erst richtig ein Kommunist geworden.« Die dritte Erfahrung blieb Ricardo durch Zufall erspart: das Massaker von Tlatelolco, am 2. Oktober 1968, bei dem Hunderte Studenten von Polizei- und Militäreinheiten angegriffen, verschleppt und ermordet wurden. Es war der Anfang vom Ende der mexikanischen Einparteienherrschaft, die sich nach seiner Einschätzung in den Jahren, Jahrzehnten danach zur demokratisch verbrämten Militärdiktatur entwickelt hat.

Das Landhaus seiner Eltern in Tepoztlán, 75 Kilometer südlich der Hauptstadt, wandelte Ricardo zu einer Clínica Popular um, einer Ambulanz für Arme, hauptsächlich Indigene, die sich keine ärztliche Behandlung leisten konnten. Zusätzlich bildete er Gesundheitspromotoren aus, die ihrerseits auf dem Land und in Elendsvierteln aktiv wurden. Dabei arbeitete er eng mit christlichen, von der Befreiungstheologie geprägten Basisgemeinden zusammen, die seiner Meinung nach die kommenden Gewaltexzesse eher erkannten und besser auf sie reagierten als die Kommunistische Partei und andere marxistische Organisationen. Darüber hinaus war es ihm, dem Atheisten mit jüdischen Wurzeln, eine besondere Genugtuung, von den Katechisten, Nonnen und Priestern als einer der ihren anerkannt zu werden.

Angesichts der wachsenden Repression schloss er sich Anfang der 70er Jahre den Fuerzas de Liberación Nacional an, einer Guerillaorganisation, die als einzige des Kontinents weder Überfälle noch Entführungen beging. Sie lehnte auch ab, sich zum Sprachrohr der Unterdrückten zu machen. Wichtiger schien ihr, diese zu ermächtigen, selbst für demokratische Verhältnisse zu kämpfen. Trotzdem oder gerade deshalb stand sie im Visier der Brigada Blanca, einer berüchtigten paramilitärischen Einheit des Innenministeriums. Fünf Jahre lang lebte Ricardo Loewe mit falscher Identität in einem Armenviertel von Ciudad Juárez, ehe er nach einem Zerwürfnis mit dem Führer der Organisation in das zivile Leben zurückkehrte. Einen 13jährigen Jungen aus Chiapas, den Polizisten so schwer verletzt hatten, dass er querschnittsgelähmt war, nahm Ricardo als Ziehsohn mit sich nach Tepoztlán. Von nun an engagierte er sich neben seiner ärztlichen Tätigkeit auch auf dem Gebiet der Folterbekämpfung und gründete 2004 gemeinsam mit anderen Medizinern, Juristen und Psychologen das immens verdienstvolle, immer noch wirkungsmächtige »Kollektiv gegen Folter und Straflosigkeit«.

Ein Kreis schließt sich

Der Zapatistischen Befreiungsarmee, die zehn Jahre zuvor mit einer spektakulären Aktion in Chiapas weltweit bekannt geworden war, fühlte sich Ricardo von Anfang an verbunden. Wegen ihrer Doktrin vom »gehorchenden Befehlen«, ihrer Rätestruktur, ihrer Verwurzelung in indigenen Tradi­tionen und ihrer Beharrlichkeit, wider alle staatliche Gewalt autonome Gemeinden aufzubauen, sah er in dieser revolutionären Bewegung seine kühnsten Vorstellungen verwirklicht, und als im Vorjahr eine große Abordnung der Zapatisten ihre Erkundung Europas just in Österreich startete, schloss sich für ihn ein Lebenskreis, der 80 Jahre zuvor in einer Geburtsklinik der Stadt Mexiko begonnen hatte.

Ein richtiges Leben im falschen führen: Wie das geht, hat Ricardo Loewe vorgemacht. Auf dem Krankenbett räsonierte er über das Schicksal, im eigenen Körper, der nicht mehr mitmacht, gefangen zu sein. »Der Geist allein kann nichts ausrichten. Da haben wir wieder das Problem der Freiheit.« Und er erinnerte sich an seine Tante, die gesagt hatte, sie wolle das Sterben erleben. Das war auch sein Wille. Es als dem Leben zugehörig wahrnehmen, bei vollem Bewusstsein, aber ohne Qual. Seiner Freundin Edith Hanel vom Solidaritätskomitee Mexiko Salzburg zufolge, die bis zuletzt bei ihm war, ist dem Unersetzlichen dieser Wunsch in Erfüllung gegangen. Den anderen, den er im März 2018 anlässlich einer Hommage an das Mexiko des Präsidenten Lázaro Cárdenas äußerte – das 1938 als einziges Land im Völkerbund gegen die Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich protestiert hatte –, diesen anderen Wunsch hat er uns als »Einladung« und Erbe hinterlassen: »für eine Welt zu kämpfen, in die viele Welten passen«.

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(c) Junge Welt 2022

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