Solidaritätskomitee Mexiko Salzburg - Würde durch Freiheit und Gerechtigkeit

Erlebnisbericht Guerrero

Auf Augenhöhe mit den „Aufständischen“

Ein Bericht über meinen Aufenthalt in Guerrero, bei der Menschenrechtsorganisation Tlachinollan, im August 2011.

Die Gebiete Montaña und Costa Chica liegen im Süden des Bundesstaates Guerrero, die dort angesiedelten Comunidades gehören zu den ärmsten der Region. Sie sind am stärksten von politischer Repression und Militarisierung betroffen. Mit dem  „Kampf gegen die Aufständischen“ wird dieser Zustand von Seiten der Regierung argumentiert. Übergriffe des Militärs auf indigene Dörfer werden  nicht geahndet, da es über eine eigene mächtige Parallelstruktur verfügt. Dokumentierte Fälle die zur Anzeige kommen, verschwinden in den Tiefen der Militärjustiz. Korrupte Politiker, Polizei und organisierte Banden unterstützen zusätzlich dieses System der Straflosigkeit.

Dem gegenüber stehen die Forderungen der indigenen Gruppen, auf Anerkennung als gleichberechtigte Individuen dieser Gesellschaft. Sie verteidigen ihren Grund und Boden gegen kapitalistische Großprojekte internationaler Konzerne, wie Minenbau oder Staudämme, die ihre Lebensgrundlage zerstören. Sie fordern den Bau von Strassen zu ihren Dörfern, Zugang zu medizinischer Versorgung und Schulen für ihre Kinder.

Soweit mein Stand als ich in Chilpancingo der Hauptstadt von Guerrero eintreffe. Mein Ziel ist das Büro des Red Guerrerense, ein Zusammenschluss von mehreren sozialen Organisationen in Guerrero. Hier treffe ich Abel Barrera den Mitbegründer und Leiter von Tlachinollan. Einer Menschenrechtsorganisation die seit 17 Jahren in Tlapa de Comonfort besteht und in Ayutla de los Libres ihren zweiten Standort hat. Inhalt des Gesprächs ist mein Aufenthalt bei Tlachinollan und diverse organisatorische Dinge.

Laut Plan soll ich die ersten beiden Wochen in Ayutla verbringen, da dieses Büro erst vor kurzem wieder eröffnet werden konnte. Der Hintergrund für die vorübergehende Schließung lässt sich durch Ereignisse im Jahr 2009 erklären. Damals wurden zwei Angehörige von OPIM (Organisación del Pueblo Indigeno Me`phaa) und OFPM (Organisación para el Futuro del Pueblo Mixteco) ermordet und es kam in der Folge auch zu persönlichen Bedrohungen der AnwältInnen. Das Büro musste daraufhin geschlossen werden, die Betreuung der Gruppen wurde in dieser Zeit mobil organisiert. Seit zwei Monaten ist es nun wieder geöffnet, die Situation vor Ort sehr sensibel. In der dritten Woche soll ich in Tlapa, die Arbeit in der Zentrale von Tlachinollan kennen lernen. Während des Gesprächs, das in angenehm ruhiger Atmosphäre verläuft, werden alle wichtigen Informationen zum Gebiet, zur Arbeit von Tlachinollan und zur alltäglichen Praxis besprochen. Es gibt auch ausreichend Möglichkeit Fragen zu klären oder konkrete Situationen durch zu besprechen. Begleitet wird Abel von zwei weiteren MitarbeiterInnen, einer davon wird mit mir am nächsten Morgen nach Ayutla aufbrechen.

Die Fahrtwege dauern aufgrund des schlechten Straßenzustandes recht lange, frühes Aufstehen entwickelt sich deshalb sehr schnell zum gewohnten Begleitumstand. Als Transportmittel dienen u.a. Taxis de Routa, die in der Regel doppelt belegt, mit offenen Fenstern und lauter Musik unterwegs sind. Nach mehrfachem Umsteigen und einige Stunden später kommen wir in Ayutla an, das etwa 60 km von der Küste entfernt liegt und sich durch sehr heißes, feuchtes Klima auszeichnet. Diese Ortschaft zählt etwa 8000 EinwohnerInnen und wird neben Polizei und Militär, von mehreren bewaffneten Gruppen kontrolliert. Taxifahrer die den ganzen Tag durch den Ort schwirren, stellen so etwas wie den mobilen Lauschangriff dar.

Das Büro von Tlachinollan liegt nur wenige Minuten vom Marktplatz entfernt, wo auch Gemeinde und Polizei ihre Stationen haben. Die Begrüßung verläuft sehr herzlich, zumal ich auch gleich einige Vertreter der  OFPM (Organisación para el Futuro del Pueblo Mixteco) kennen lerne, die gerade zu einer Besprechung im Büro sind.

Am späteren Nachmittag komme ich bei meiner Unterkunftsgeberin an, einer Lehrerin die am Ortseingang  von Ayutla mit ihrer Familie wohnt. Sie gehören zur Gruppe der Mixtecos und leben seit über 20 Jahren hier. Da sowohl sie als auch ihr Mann, in umliegenden Gemeinden unterrichten, sind sie mit der Notwendigkeit von bilingualem Unterricht sehr gut vertraut. Dieser war bis in die neunziger Jahre nicht zugelassen, indigene Sprachen waren in den Schulen verboten. Bilingualer Unterricht bedeutet, dass die Inhalte zuerst in der jeweiligen Muttersprache vermittelt werden und anschließend auf Spanisch, sodass ein Erlernen der zweiten Sprache begleitend möglich ist. In den folgenden zwei Wochen, verbringe ich einige Abende mit der Maestra vorm Haus sitzend, lerne Unterrichtsmethoden und Grundbegriffe des Mixteco kennen.

Meine Zeit tagsüber verbringe ich entweder im Tlachinollan Büro oder unterwegs mit den drei AnwältInnen. Die Infrastruktur im Büro kann ich mit benutzen, was vor allem meine Freundschaft mit dem Online Wörterbuch für juristische Fachbegriffe vertieft. Kurzfristige Termine und Planänderungen gehören zum Alltag, da Zwischenfälle mit Militär oder Polizei ohne Vorankündigung passieren. Die Möglichkeit zur kostenlosen Rechtsberatung und Begleitung wird Rege in  Anspruch genommen. Die häufigsten Fälle betreffen häusliche Gewalt, das Altersspektrum reicht von extrem jungen bis zu älteren Frauen, die bereits viele Jahre in dieser Situation leben. Sie erkundigen sich nach ihren Möglichkeiten und werden von der Anwältin durch den Rechtsdschungel begleitet. Bei Behördengängen wie z.B. ZeugInnenaussagen, ist Zeit ein sehr relativer Faktor, sie nehmen mitunter den ganzen  Tag in Anspruch.

Der Schwerpunkt der Arbeit in Ayutla liegt auf der Betreuung von OPIM (Organisación del Pueblo Indigeno Me`phaa) und OFPM (Organisación para el Futuro del Pueblo Mixteco). Zwei indigenen Gruppen, die in den neunziger Jahren begonnen haben, sich selbst zu organisieren. Der Arbeit ihrer Organisationen liegt der Aufbau einer selbst definierten wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Basis, zugrunde.

Dieses Streben wird von Seiten des Militärs und der Politik als aufständisches Verhalten gesehen, was sie dauerhafter Repression aussetzt. Ernten werden zerstört, Soldaten dringen bewaffnet in ihre Häuser ein, vergewaltigen Frauen, verprügeln und verschleppen Männer. Tlachinollan dokumentiert diese Vorkommnisse und kämpft auf juristischem Weg für die Rechte dieser Menschen. Einige Betroffene bekamen besondere Schutzmaßnahmen zugesprochen, dazu zählen Satellitentelefone und Überwachungskameras. Bei einer Fahrt zur Überprüfung und Erneuerung der Geräte, begleite ich einen Anwalt, der die Wege kennt und die Arbeiter in die Comunidad lotst. Der Anfahrtsweg dauert in etwa einen halben Tag, ohne Pickup mit Allradgetriebe sind die steilen, von sintflutartigen Regenfällen durchfurchten Wege, nicht zu nehmen. Die Comunidad besteht aus wenigen Häusern, in Summe wohnen etwa 15 bis 20 Menschen dort. Umgeben sind sie von Wäldern und Bergen. Ich bekomme einen Begriff davon, wie viel konkrete Planung und Vorsatz, den Übergriffen auf diese Comunidades zugrunde liegt.

Meine Wochenenden verbringe ich mit Ausflügen an die Küste, wo ich Leute von der Policía Comunitaria zu Gesprächen treffe und im Gebiet von La Parota. Dort  konnte im Jahr 2010 der Bau eines Staudammprojekts verhindert werden. Diese und weitere autonome, indigene Bewegungen wie z.B. Radio Ñomnda werden von Tlachinollan rechtlich begleitet.

Nach über zwei Wochen verabschiede ich mich von der Familie der Lehrerin und dem Team in Ayutla, um mich auf den Weg nach Tlapa de Comonfort zu machen. Die Anreise führt mich wieder über Chilpancingo, wo ich einen Tag Pause einlege, weil ich erst am Montag erwartet werde. Bei meiner Ankunft in Tlapa fällt mir als erstes die klimatische Veränderung auf, es ist merklich weniger feucht und heiß, als in Küstennähe. Das Hotel, in dem ich untergebracht bin, liegt direkt im Zentrum, wo sich auch der Markt und der Zócalo mit Gemeinde und Polizei befinden. Tlapa zählt in etwa 55.000 EinwohnerInnen, der städtische Charakter und die damit verbundene Anonymität empfinde ich sehr angenehm.

Montagmorgen treffe ich wie vereinbart  in den Büros von Tlachinollan ein, die sich wenige Gehminuten von meinem Quartier befinden. Was in Ayutla ein einzelner Raum für viele Menschen ist, steht nun in Tlapa als dreistöckiges Gebäude, mit sechs Abteilungen und rund 24 MitarbeiterInnen, vor mir. Malu meine Ansprechpartnerin, führt mich durchs Haus und stellt mir die Leute vor. Ähnlich wie in Ayutla sind die MitarbeiterInnen viel unterwegs, von daher sind die Büros unterschiedlich stark besetzt.

Begonnen haben sie mit einem Team von drei Leuten, erzählt mir Abel Barrera, der Ethnologie und Theologie studiert hat und im Rahmen dieser Studien, das Leben der Indígenas in der Montaña kennen lernte. Aus einem Dokumentationsprojekt entwickelte sich im Lauf der Jahre die heutige Struktur, in der Indígenas gleichermaßen wie nicht-Indígenas arbeiten, sodass  sprachliche und kulturelle Offenheit garantiert ist.

Zentral ist auch hier die Rechtsabteilung, die von sechs AnwältInnen besetzt ist. Den Schwerpunkt stellt im Moment die Information und rechtliche Unterstützung, der vom Minenbau bedrohten Comunidades dar.  Darüber hinaus reicht die Bandbreite der Fälle von Krankenhäusern die ohne Geld für Medikamente und Personal dastehen, über Tagelöhner die bei Arbeitsunfällen nicht  versichert sind, bis hin zur Rückführung von Toten die an der Grenze zu den USA, ums Leben gekommen sind. Eine Anwältin deren Arbeitsschwerpunkt in der Betreuung indigener Frauen liegt, beschreibt deren Situation geprägt von mehrfacher Diskriminierung. Es gibt für den gesamten Bundesstaat lediglich ein Frauenhaus in Acapulco, spezielle Beratungsstellen oder ÜbersetzerInnen für indigene Sprachen so gut wie keine. Von medizinischer Betreuung in Krankenhäusern oder Arztpraxen, sind sie in der Regel ausgeschlossen. Ähnlich wie in Ayutla liegt der Prozentsatz, von häuslicher Gewalt sehr hoch.

Neben der Juristischen gibt es noch weitere Abteilungen, die für Bildung, Migration, psychologische Betreuung, Dokumentation und Öffentlichkeitsarbeit/Lobbying zuständig sind. Die Gesamtkoordination wird von Abel und einer weiteren Mitarbeiterin übernommen, tausende Telefonate täglich, zeichnen ein eindrucksvolles Bild, der guten Vernetzung und hartnäckigen Arbeit des gesamten Teams.

Der Grundsatz lautet sich auf Augenhöhe mit den “Aufständischen” zu bewegen. Ihre Kultur zu respektieren und ihr Autonomiestreben zu unterstützen, sei es durch großangelegte Kampagnen oder durch Vernetzung mit anderen Menschenrechtsorganisationen. Sie frühzeitig mit den notwendigen Informationen zu versorgen und rechtliche Verfahren mitunter über Jahre hinweg durch zu fechten, ohne aufzugeben. Abel Barrera meint dazu, es gehört zum Alltag der Indígenas, dass ihnen mit rassistischer Diskriminierung und Ausgrenzung begegnet wird. Deshalb ist es für ihn der einzig gangbare Weg, ganz bewusst diese Bewegungen von unten zu unterstützen. Die Unterstellung der Regierung, dass Tlachinollan die legale Basis der Guerilla darstelle, ist wohl auf diese solidarische Haltung zurückzuführen.

Nach etwas mehr als drei Wochen verabschiede ich mich tief beeindruckt und mit großem Respekt für die Arbeit von Tlachinollan, die sozialen Bewegungen in Guerrero und die Menschen, die ich in dieser Zeit kennen gelernt habe.